Get in touch
Veränderte Ansprüche von Endkund:innen, strengere Regularien wie das Lieferkettengesetz, Ressourcenknappheit und die Anforderungen von Investoren – es gibt für den Handel viele Gründe, das Thema Nachhaltigkeit weiter zu priorisieren. Dabei geht es um mehr als Umwelt und Ressourcen: Bei den ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance) spielen zusätzlich soziale Aspekte und Unternehmensführung eine Rolle. Das bedeutet, dass Unternehmen über ihr eigenes Handeln hinaus Verantwortung übernehmen müssen, beispielsweise hinsichtlich der Arbeitsbedingungen bei der Herstellung oder hinsichtlich des Transports eines Produkts. Und genau hier wird es für Händler kompliziert, denn Lieferketten lassen sich häufig nicht optimal nachverfolgen.
Kein Wunder also, dass der „digitale Produktpass“ (auch „digitaler Zwilling“) für die Branche hochaktuell ist: Er macht Lieferketten transparent und nachvollziehbar – und gibt Endkund:innen wie Händlern damit weitaus mehr Informationen zur Herkunft und Kreislauffähigkeit eines Produkts.
Das Konzept des digitalen Produktpasses wurde 2019 im Rahmen des European Green Deals als ein entscheidendes Instrument für eine nachhaltige und ressourceneffiziente Wirtschaft vorgestellt. Gemeint ist eine virtuelle Produktrepräsentation, die alle relevanten Informationen über ein Produkt beinhaltet, und kontinuierlich um weitere Daten ergänzt wird.
In der konventionellen Wertschöpfung ohne digitalen Produktpass gehen viele dieser Daten verloren. Zwar bewegt sich das aus unterschiedlichen Rohstoffen hergestellte physische Produkt von der Fertigung bis zum Recycling entlang der Wertschöpfungskette, die zugehörigen Informationen jedoch nicht:
Der digitale Produktpass schafft Transparenz für alle Akteur:innen entlang der Wertschöpfungskette. Die Nutzer:innen erhalten Zugriff auf für eine Kaufentscheidung relevante Informationen, beispielsweise zur Nachhaltigkeit eines Produkts. Händler, Hersteller und Werkstätten können zusätzliche Informationen nutzen, um Prozesse zu optimieren und die Zirkularität innerhalb der Wertschöpfung zu erhöhen, etwa durch ein Verlängern der Nutzungsdauer (Förderung von Reparaturaktivitäten durch Hinweise und Anleitungen) oder Rückführung von Materialien (optimiertes Recycling).
Das ist beispielsweise für die Automotive-Branche interessant: Bei über 10.000 Einzelteilen aus unterschiedlichen Materialien, darunter einem großen Anteil Metalllegierungen aus Eisen und Aluminium, sind Informationen über genaue Zusammensetzung und Rezyklierbarkeit besonders wertvoll.
Auch für Händler von Elektrogeräten wird der digitale Produktpass in Zukunft relevant: Die geplante neue EU-Batterieverordnung bewertet den gesamten Lebenszyklus von Batterien nach Kriterien der Nachhaltigkeit und soll auch die Einführung des Batteriepasses enthalten, des ersten digitalen Produktpasses auf europäischer Ebene. Das Thema wird also zeitnah relevant für Hersteller und Händler von batteriebetriebenen Produkten, etwa Elektronik- und Industriegeräte, aber auch Elektroautos.
Doch im digitalen Produktpass steckt weiteres Potenzial für mehr Nachhaltigkeit in Lieferketten: Mithilfe von KI und maschinellem Lernen können digitale Zwillinge von Produkten für Simulationen verwendet und so Ereignisse vorhergesagt sowie Entscheidungen automatisiert werden. Ein Beispiel sind optimierte Warenbewegungen in Lagern oder die Überwachung von Beständen.
Auch das optimale Vorgehen bei Lieferkettenunterbrechung durch unvorhersehbare Ereignisse, etwa Naturkatastrophen, Unfälle oder politische Hindernisse, kann so simuliert und damit die Lieferketten-Resilienz erhöht werden.
In der Theorie ist der digitale Produktpass also ein vielversprechendes Konzept, gerade für den Handel. Bei der Umsetzung ergeben sich natürlich einige Hindernisse, etwa das Etablieren einheitlicher Standards. Mit der Implementierung solcher Standards für den digitalen Produktpass befassen sich verschiedene Initiativen, die sich allerdings häufig auf konkrete Produktgruppen, Branchen oder Anwendungsfälle konzentrieren. Es ist aber zu erwarten, dass die Initiativen durch dieses Vorgehen und im Austausch mit anderen Initiativen zukünftig rasch lernen und wachsen werden, auch bei der technischen Umsetzung.
Damit Händler hiervon langfristig im Sinne der Nachhaltigkeit von Lieferketten profitieren können, benötigen sie natürlich die passende technologische Grundlage. Veraltete IT-Systeme und manuelle Prozesse stehen dabei häufig noch im Weg.
Ein erster Schritt ist also die ganzheitliche Digitalisierung des Supply Chain Managements. Das erfordert allerdings Digitalisierungskompetenzen bei den implementierenden Unternehmen:
Bei der Umsetzung ist es wichtig, auf bestehenden Systemen aufzubauen. Gerade in der Automotive-Branche beispielsweise sind zahlreiche Bausteine hierfür in der Standardsoftware bereits angelegt. Viele Informationen auf OEM- und Tier-One-Ebene sind digital verfügbar und werden in Clouds gespeichert und über Applikationen gemanagt. Datenbanken und Zertifikate könnten also für den digitalen Produktpass verwendet werden. Mehr Informationen dazu liefert beispielsweise der Praxischeck digitaler Produktpass für die Automobilindustrie, der unter Mitarbeit zahlreicher Unternehmen aus der Automobilbranche im Oktober 2021 entstanden ist.
Der digitale Produktpass ist aber nicht das einzige große Potenzialfeld, das in der Digitalisierung von Prozessen und Lieferketten steckt. Mithilfe eines digitalen Order-Management-Systems etwa können Händler die Lieferung von Produkten transparent und flexibel gestalten – und Lagerbestände, Produktverfügbarkeiten und Transportwege effizient und nachhaltig verwalten.
Digitalisierung und Nachhaltigkeit gehen also Hand in Hand. Sofern nicht längst geschehen, lohnt es für den Handel auf ganz unterschiedlichen Ebenen, jetzt in digitale Prozesse zu investieren – und schon heute die technologischen Grundlagen für die Innovationen von Morgen zu schaffen.